Sich gesund und abwechslungsreich ernähren – das klappt wohl am besten mit Gemüse. Nur kann unsere Autorin Gemüse überhaupt nicht ausstehen und isst es auch nie. Das soll sich jetzt für vier Wochen ändern. Denn Geschmack will angeblich angelernt sein.
Genüsslich beißt meine Freundin in ihre warme Käsetasche, mein Kommilitone schaufelt beherzt Nudeln und Fleisch in sich hinein. Gleichzeitig schaue ich geknickt auf meinen Plastikteller hinunter: Ein saftig grüner Salat mit roten Tomaten, frischen Karotten und knackigem gelben Mais starren mich an. Was sich für andere lecker anhören mag, ist für mich das pure Grauen. Ich mag Gemüse überhaupt nicht, esse es seit bestimmt 15 Jahren nicht mehr. Also bin ich genau die Richtige dafür, einen Selbstversuch zu starten und vier Wochen lang jeden Tag Gemüse zu essen.
„Menschen können sich Geschmack antrainieren“, lese ich in verschiedenen Internetforen. „Wenn du nur häufig genug ein neues Lebensmittel isst, wird es dir bald schmecken.“ Ich frage mich sofort: Ist das tatsächlich möglich? Wenn ja, wäre das ja die Möglichkeit für so viele Übergewichtige, wirklich ihre Ernährung umzustellen. Und eine Möglichkeit für mich, endlich Gemüse zu essen.
„Ich habe mich heute wie eine Kuh gefühlt, die Gras isst“, sage ich meiner Mutter nach dem ersten Tag meines Selbstversuchs am Telefon, „warum essen Menschen überhaupt Gemüse?“ Meine Mutter ist stolz, dass ich den Selbstversuch mache – dass ich es wirklich durchziehen kann, bezweifelt sie aber.
„Es ist nicht sicher, ob es geht“, sagt auch Geschmacksforscher Professor Wolfgang Meyerhof vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam. Er befasst sich damit, wie Geschmackswahrnehmung das menschliche Ernährungsverhalten beeinflusst. Theoretisch müsse es aber funktionieren, wenn man das Gemüse nur oft genug esse – so sei das wenigstens bei Kindern. Eine französische Studie habe gezeigt, dass Kleinkinder ein unbekanntes, bitteres Lebensmittel elfmal essen müssten, bis sie es freiwillig essen würden. Geschmack müsse sich nämlich herausbilden und komme einfach mit der Gewohnheit. Je häufiger man ein Lebensmittel esse, desto gewohnter wäre der Geschmack, bis man ihn ohne Abneigung genießen kann.
Wie jedes Kind musste auch ich im Kleinkindalter Gemüse essen. Kinderfotos beweisen, dass ich Spinat, Karotten und Bohnen gegessen habe – widerwillig, aber ich habe Gemüse gegessen. Irgendwann durfte ich selbst entscheiden, was ich esse, und seitdem esse ich absolut kein Gemüse. Woran das liegen kann, erklärt mir Meyerhof.
Zwiebelsaft gegen Husten
„Wir müssen das alles im Lichte der Evolution sehen“, erklärt der Geschmacksforscher. Da hätten Menschen sich vor giftigen Beeren und Kräutern schützen müssen. Kinder bekommen als erste Nahrung Muttermilch, die süßlich ist – bitteren Geschmack assoziieren sie dagegen mit Gefahr. Wenn Magen- oder Darmprobleme nach dem Essen von Gemüse auftreten, schrecke das natürlich ab. Oder wenn man ein Schockerlebnis im Zusammenhang mit Gemüse im Kindesalter erlebt hat.
Sofort schießt mir ein Gedanke in den Kopf. Als Kind hat mir meine Mutter Zwiebelsaft als Hausmittel gegen Husten gegeben. Ich fand den Geschmack nahezu unerträglich, musste mich fast übergeben. Ob dieses Schockereignis wohl meine totale Gemüseabneigung erklärt? Durchaus vorstellbar, sagt Meyerhof.
Dennoch beschließe ich, das Experiment zu starten und meine Abneigung zu überwinden. Vor meinem Selbstversuch grenze ich die Gemüsesorten, die ich essen werde, noch ein. Schließlich gibt es Unmengen an Sorten, die ich mitnichten kenne. Manchmal fällt mir schon der Unterschied zwischen Zucchini und Gurke schwer.
Ich entscheide mich für Paprika, Karotten, Mais, Tomaten und Salat und mache erst einmal einen Großeinkauf. Als ich den Gemüsestand im Supermarkt anpeile, eröffnet sich für mich ein völlig neues Terrain. Ich fühle mich gut und gesund – dabei habe ich noch nicht einmal etwas gegessen. Am Ende schleppe ich eine riesige Tüte Gemüse nach Hause. Kommentar meiner Mutter: „Du wirst dieses Gemüse niemals essen.“
Die ersten Tage fallen ernüchternd aus. Ich esse knackigen Eisbergsalat, Brotscheiben mit Frischkäse und frischen Tomaten und versuche, Karottensaft mit Honig zu trinken. Es funktioniert – wenn ich mir die Nase zuhalte. Schon jetzt zweifle ich an der Menschheit. Wieso essen Menschen Gemüse? Das kann denen doch niemals schmecken. Und wieso habe ich mich nur auf diesen Selbstversuch eingelassen? Salat und Gemüse machen nicht einmal satt.
Geschmacksforscher Meyerhof weiß, dass wir evolutionsbedingt lieber kohlenhydrathaltige Nahrung zu uns nehmen – schließlich mussten die Menschen schon damals Kraft haben, um schwierige Arbeit zu leisten. „Kalorien und Kohlenhydrate haben einen Belohnungswert, deswegen essen wir sie auch, um Schmerzen zu betäuben“, erklärt Meyerhof. Belohnung ist für mich genau das richtige Stichwort. Meyerhof meint auch, Belohnungen nach einem eher ungenießbaren Essen könnten mir helfen, Gemüse etwas erträglicher zu finden. Also belohne ich mich nach meinem nächsten Eisbergsalat mit einem großen Spaghettieis – und fühle mich tatsächlich besser.
Trickse dein Gehirn aus!
Auch Geschmacksforscher Per Møller hat gute Tipps. Er sagt, dass man sich Geschmack am besten antrainieren kann, wenn man von der Pawlowschen Konditionierung ausgeht. Sprich: Trickse dein Gehirn aus, indem du etwas leckeres Bekanntes mit dem für deinen Geschmackssinn unbekannten Gemüse isst und rufe somit trotzdem positive Botenstoffe in deinem Gehirn hervor.
Gesagt, getan. Ich backe gerne Pizza zu Hause, meistens dünn belegt mit Salami, Schinken und vielleicht auch ein paar Pilzen. Diesmal reichere ich sie allerdings mit Tonnen von Mais, Paprika und Tomaten an. Und ich muss sagen: Sie schmeckt gar nicht mal so schlecht. Ich habe aber auch extraviel Käse und Salami verwendet, um mein Gehirn auszutricksen. Das erste Wochenende mit Gemüse steht an, und ich beschließe, zu „kochen“ und mir Wraps mit Gemüse und Hähnchen zuzubereiten. Normalerweise koche ich nicht gerne, denn für mich dauert Kochen etwa fünfmal so lang wie das schnelle Aufessen danach. Mit dem Schnippeln von frischen Tomaten und Paprika vergeht auch etwas Zeit, bis die Wraps endlich gefüllt und verzehrbereit sind, aber das Kochen macht sogar ein bisschen Spaß. Das Essen dann allerdings weniger. Den ersten Wrap mit Salat, Tomaten, Paprika, Mais und ein bisschen Hähnchen bekomme ich noch runter, beim zweiten kapituliere ich. Mir ist schlecht, ich habe Bauchschmerzen, und ich möchte einfach nicht weiteressen.
Mein Fazit also nach der ersten von vier Wochen: Ich bin überrascht, dass ich mich dazu zwingen konnte, jeden Tag Gemüse zu essen. Ich bin aber auch froh, so vielen Freunden und meiner Familie davon erzählt zu haben. Sie sind nämlich ein Ansporn, weiterzumachen. „Die richtige Soße macht erst einen guten Salat“, sagt eine andere gute Freundin zu mir. Wobei mir dieser Tipp doch etwas abstrus vorkommt. Wenn ich meinen ganzen Salat in Joghurt- oder Knoblauchdressing ertränke, dann schmecke ich ihn doch sowieso so gut wie gar nicht heraus. Dann kann ich auch gleich gar keinen Salat essen, denke ich.
Die zweite Woche läuft dann auch schleppend. Mein Uni- und Arbeitstag ist stressig, Zeit und Kraft für langwieriges Kochen habe ich nicht. Und ich bekomme immer wieder Bauchschmerzen, nachdem ich Salat gegessen habe. Das liegt laut verschiedener Internetforen daran, dass mein Darm an die Rohkost einfach nicht gewöhnt ist. Für die Verdauung von Rohkost braucht der Darm Verdauungskraft, die er auch erst durch mehrmaliges Essen der Rohkost bekommt. Der Magen hat nicht genügend leistungsfähige scharfe Magensäure, um das Essen zu verdauen, der Dünndarm zu wenig Enzyme, um die Bestandteile des Gemüses aufzuteilen.
Die einzige Lösung auch hier: den Magen an das neue Essen zu gewöhnen. Nach den ersten anderthalb Wochen des Experiments habe ich dann sogar Lust auf einen Salat mit Tomaten, Mais, Karotten, Schinken und Käse – und ganz viel Joghurtsoße. Die Soße überdeckt den bitteren Geschmack, ein Stück Brot trickst mein Gehirn aus und sendet positive Botenstoffe aus. Und auch am Tag darauf habe ich auf einmal Lust, etwas mit Gemüse zu kochen. Ich mache mir ein Rührei mit Paprika, Tomate und Karotten, das ich am nächsten Tag bei der Arbeit esse, und merke, dass es tatsächlich darauf ankommt, gut zu kochen, damit es schmeckt. Ich sitze im Büro und habe Hunger, doch das Rührei mit Gemüse schmeckt mir einfach überhaupt nicht. Die Karotten gehören da nicht rein, das Brot macht es auch nicht viel besser. So wie nicht jedem Fleischesser jede Art von Fleischzubereitung zusagt, so kann mir auch nicht jedes Gemüsegericht gelingen und schmecken.
Der Salat schmeckt mir
Am Ende der zweiten Woche merke ich, dass das Gemüse etwas genießbarer wird. Am 12. Tag ist die magische Elf-Mal-essen-und-es-schmeckt-Grenze erreicht und tatsächlich: Ich habe mittags Lust auf einen lockeren, leichten Salat. Der Geschmack bleibt noch lange im Mund, aber das ist in Ordnung. Der Salat schmeckt mir.
Dass es auf Reisen nicht gerade leicht ist, sich gesund zu ernähren, realisiere ich in der dritten Woche. Ich bin auf einer Recherchereise in Polen in Kooperation mit der TU Dortmund und der Universität Wroclaw. Wer dabei irgendwie Gemüse zu sich nehmen will, muss gewissenhaft darauf achten. Der Tag ist durchgetaktet, unterwegs auf Reisen wird meistens Fastfood gekauft – doch diesmal ist es anders. Nach der getanen Arbeit sitze ich mit einer Freundin gemütlich am Ufer der Oder, sie ein Brötchen mit Humus kauend, ich mit einem Feldsalat mit Tomate, Mais und Hähnchen auf dem Schoß. Ich gieße noch ein bisschen Knoblauchsoße darüber und bin überrascht, wie lecker der Salat ist. Entweder liegt es daran, dass die Aussicht so schön ist und ich so gut gelaunt bin, oder mir schmeckt tatsächlich wieder ein Salat. Ich bin nahezu überwältigt.
Auch am nächsten Tag kaufe ich mir unterwegs etwas mit Gemüse. Ein Nudelsalat mit Tomaten und Mais versüßt mir den Abend, und ich spüre, wie Glückshormone meinen Körper durchfluten. Mein Körper beginnt sich wohl langsam an Gemüse zu gewöhnen, mein Bauch tut nach dem Verzehr auch nicht mehr weh.
Doch nicht an jedem Tag ist es so einfach, sich im Supermarkt oder in einem Restaurant mal schnell einen Salat zu holen. An einem Tag isst die gesamte Recherchegruppe in einem georgischen Restaurant – die Speisekarte verspricht leckere Speisen, die Salate hören sich allerdings alles andere als gut an. Es rattert in meinem Kopf, wie ich es denn schaffen soll, heute noch Gemüse zu essen. Es ist bereits 21.30 Uhr, und ich habe nicht einmal ein Stück Karotte gegessen, stattdessen gerade Chatschapuri, eine Art Pizza. Meine Freundin schlägt mir vor, doch einen Fertigsalat im Supermarkt zu kaufen und nachher in unserem Hotel zu essen. Schnurstracks laufe ich zum nächsten Laden und tue genau das. Um 23.30 Uhr sind wir dann auf dem Weg zu unserer Unterkunft, an der Straßenbahnhaltestelle schiebe ich mir ein paar Salatblätter und eine Cocktailtomate in den Mund.
In der letzten Woche meines Selbstversuchs bin ich wieder zu Hause, und sie vergeht wie im Flug. Wie selbstverständlich esse ich jeden Tag Gemüse. In der Mensa unserer Universität esse ich den Beilagensalat, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, Brötchen mit Frischkäse und Tomaten schmecken einfach fruchtig und lecker. In meinem Gemüsewahn mache ich sogar noch kurz vor Ende des Experiments einen Großeinkauf, bei dem ich haufenweise Paprika, Tomaten, Mais und Salat kaufe, und lege sogar freiwillig noch Gemüsesmoothies und Gemüsewraps in den Einkaufswagen. Ich kann es selbst kaum glauben, aber der Selbstversuch hat funktioniert. Nach vier Wochen kann ich sagen, dass ich zwar nicht jedes Gemüsegericht mag, aber dass ich endlich Gemüse esse. Ich muss mich nicht mehr beschämt beim Abendessen bei Freunden dafür entschuldigen, den Salat auf dem Teller übrig zu lassen – ich kann ihn einfach mitessen, ohne die Luft anzuhalten. Ich weiß nicht, ob sich jeder Geschmack antrainieren kann. Ich weiß aber, dass ich die Letzte bin, von der ich erwartet hätte, dass es klappt. Und das nach 21 Lebensjahren. Meine Mutter ist auch stolz.
Erschien ursprünglich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.